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Die Überdeterminiertheit von Erkrankungen

In der klassischen Ursache-Wirkungs-Denkweise von uns Menschen, gibt es eine Ursache, die zu einer Konsequenz führt. Bezogen auf Erkrankungen sieht unser Modell meist so aus:


Ein Virus verursacht eine Erkrankung. - Ein Unfall verursacht einen Beinbruch.


Determiniertheit ist also: Eine Ursache bewirkt eine Krankheit und eine spezifische Therapie heilt diese Erkrankung. Man ist bemüht, die eine Ursache zu finden, die die Erkrankung bewirkt hat und die eine Heilmethode anzuwenden, die die Gesundheit wieder herstellt.


Nun machen aber viele Menschen die Erfahrung, dass mit einer Therapie-Art ihre Krankheit nicht verschwindet.

Meiner Erfahrung nach liegt das daran, dass Erkrankungen meist multikausal sind, also durch mehrere Ursachen zusammen bewirkt wurden – ich nenne das „Überdeterminiertheit“:


Ursache 1

Ursache 2

Ursache 3 Krankheit

Ursache 4

Ursache 5

Ursache X


Es gibt in der Regel relativ viele Ursachen, die zu einer Erkrankung führen – und das „fiese“ an dieser Sache ist, dass es meist nicht nur die SUMME an Ursachen ist, die die Krankheit bewirkt (denn dann müsste mit einer Behandlungsmethode zumindest eine Teil-Verbesserung eintreten) – sondern, dass JEDE einzelne Ursache ausreicht, um alleine diese Erkrankung hervorzurufen, bzw. die Erkrankung aufrecht zu erhalten. Und das ist dann ein häufiger Grund, weshalb Menschen das Gefühl haben eine Therapiemethode habe nicht geholfen.


Oft hilft aber eine Methode schon, die eine Ursache zu lösen, die ihrer Theorie nach verantwortlich für die Erkrankung ist - nur durch die Überdeterminiertheit ist es eben so, dass die anderen Ursachen immer noch da sind und auch ohne die eine gelöste Ursache das Problem weiterhin existieren lassen.



Ursache 2

Ursache 3 weiterhin „krank“

Ursache 4

Ursache 5

Ursache X


Wenn also eine Therapie die Ursache 1 der Erkrankung wirklich löst – gibt es immer noch X Ursachen, die nicht gelöst sind, weshalb das Problem weiterhin besteht. Der Erfolg (dass tatsächlich etwas gelöst wurde!!) ist nicht wirklich ERKENNBAR – auch wenn er da ist.


Nun gibt es viele, viele Möglichkeiten, wie diese Zusammenhänge beim einzelnen Menschen sein können. Es kann sein, dass eine Methode nur eine Ursache löst. Es kann auch sein, dass mit einer Methode mal zwei oder drei Ursachen gleichzeitig gelöst werden können – weil diese Ursachen irgendwie miteinander zusammen hängen. Und manchmal kann es sogar so sein, dass man EINE Ursache findet, die, wenn sie gelöst ist, alle anderen determinierenden Ursachen ebenfalls löst, weil diese eine Ursache mit allen anderen verknüpft ist. Es gibt also ein sich gegenseitig bedingendes „NETZ AN URSACHEN“, wie eine Verstrickung auf höherer Ebene, die gelöst werden muss.


So sind im Grunde alle Ereignisse im Leben „überdeterminiert“, sie haben viele Ursachen und viele Bedeutungen – d.h. wir können viel mehr aus ihnen lernen, als nur einen bestimmten Aspekt.


Es ist wie ein Netz an Weisheit, das sich entfalten kann, wenn wir die ganze Fülle in einem Erlebnis entdecken: Wie ein Netz aus kleinen Lämpchen, wie eine Weihnachtsbeleuchtung. Alle Lämpchen hängen am gleichen Kabel und wenn da Strom drauf ist, leuchtet nicht nur ein kleines Lämpchen – es leuchten alle.


Wenn wir eine Erfahrung wirklich tief verstehen, leuchtet die ganze Lichterkette - und das ist dann eine echte ERLEUCHTUNG für uns.


Ein Beispiel aus der Praxis:


Eine Klientin hatte sich ziemlich schlimm in den Finger geschnitten, als sie mit einem Messer gearbeitet und sich nebenher fürchterlich über einen anderen Menschen geärgert hatte. Wir analysierten die Bedeutung dieser Verletzung einige Tage später:


Die erste Ursache für die Verletzung war übertriebener Ärger und Wut. Der Schnitt sagte ihr ganz deutlich: STOP!! Das ist zu viel! Du verletzt dich und andere mit deinen Gedanken. Du musst lernen, mit dieser Sache, die dich ärgert, anders umzugehen. Dich ständig aufzuregen ist nicht die Lösung. – Und wir arbeiteten an der Auflösung des Musters „Ärger“ und dem Aufbau eines liebevolleren Umgangs mit dem Menschen, über den sie sich geärgert hatte.


Die zweite Ursache lag in den Aspekten, die Christiane Beerlandt in ihrem Psychosomatik-Buch unter „Schnittverletzungen“ beschreibt: Es ging um den Aspekt, SEIN EIGENES Leben zu leben, nicht an anderen zu „kleben“, nicht zu wollen, dass andere dem entsprechen, wie man sie gerne haben mag. Die Klientin wusste, dass sie nicht eigenständig genug war, dass sie mehr auf andere schaute, als aus ihrem eigenen Leben etwas Schönes zu machen. Sie ließ mehr passiv geschehen, als dass sie ihrem Leben eine eigene Richtung gab. Die Klientin fühlte sich mehr als Kind, abhängig von ihrem Mann und dem, was andere tun oder nicht tun. Wir sprachen über Schritte der beginnenden Selbstverwirklichung – des Lebens mehr nach EIGENEN Wünschen.


Die dritte und vierte Ursache hatte mit Ängsten zu tun, die es zu überwinden galt. Einmal die Angst vor Schwierigkeiten: Zu der Zeit des Unfalls war ihr Mann mehrere Wochen auf Dienstreise und sie war mit ihrem kleinen Kind allein. Mit schmerzendem und nicht belastbarem Finger war sie in allen Alltagshandlungen eingeschränkt - und niemand war da, um zu helfen. Sie lernte, sich nicht hilflos zu fühlen, sondern zu sehen, wie stark und eigenständig sie sein konnte. Die Angst „ich schaffe das nicht alleine“ löste sich ein Stück, als sie ihr Organisationstalent und ihre Kraft erkannte, mit der sie diese Zeit meisterte.


Die andere Angst war eine diffuse Ur-Angst: „Es passiert etwas Schlimmes, niemand hilft mir und ich muss sterben.“ Als sie sich geschnitten hatte, war ihr klar, dass sie nicht einfach nur ein Pflaster darüber kleben konnte – dafür war der Schnitt zu tief. Sie war allerdings unter Schock und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie drückte ein Handtuch auf den Finger, lief nach draußen und rief nach einer Nachbarin. Die kam, verband den Finger und fuhr sie mitsamt dem Kind in die Notaufnahme, wo die Wunde gut versorgt wurde. Wir konnten herausarbeiten, dass sie die Erfahrung machen durfte: „Wenn ich WIRKLICH Hilfe brauche, ist IMMER jemand da!“


Und dies zeigte ihr auch den Unterschied zu ihrem Thema der Eigenständigkeit: Einen Tag später hatte sie keine Schmerzen mehr, aber sie sollte die Wunde nachkontrollieren lassen. Ihr Hausarzt hatte in der Zeit gerade geschlossen und Arbeitskollegen mit medizinischem Wissen hatten keine Zeit. – Sie las dann im Internet nach, wie die Wunde weiter beobachtet und versorgt werden sollte und nahm Globuli aus ihrer Hausapotheke – sie konnte sich selbst helfen. Die Erfahrung war: „Wenn du NICHT WIRKLICH jemanden brauchst, ist auch niemand verfügbar. Dann lauf auch bitte nicht anderen hinterher, sondern kümmere dich um dich selbst.“

So viel Licht und Erkenntnis in EINER Erfahrung – das ist Überdeterminiertheit.

Meine Artikel geben verschiedene Blickwinkel auf die Dinge im Leben, die uns beschäftigen. Keine Perspektive ist die „einzig wahre“. Das Universum ist multidimensional und deshalb brauchen wir auch viele, viele Blickwinkel, aus denen wir uns selbst und unser Leben betrachten können. Jede Perspektive bringt uns ein Stück weiter und wir wachsen in unserem Verständnis.


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September 2023